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Freitag, 12. Juni 2015

Beweislastumkehr nach § 476 BGB

Jeder mit dem Zivilrecht beschäftigte Jurist hat sich sicherlich in den letzten Jahren oft und eingehend mit der Vorschrift des § 476 BGB auseinandersetzen müssen. Es geht um die Beweislastumkehr beim Kaufvertrag.Dort heißt es:

„Zeigt sich innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang ein Sachmangel, so wird vermutet, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar.“

Diese Beweislastumkehr gilt für den Verbrauchsgüterkauf, also nicht generell für jeden Kaufvertrag.  Sie erleichtert also die Beweislage für den Käufer als Verbraucher.

Allerdings wird nach dieser Vorschrift nicht die Mangelhaftigkeit der Sache vermutet, sondern das Vorliegen eines Mangels muss der Käufer beweisen.  Allein das Vorliegen des Mangels zur Zeit des Gefahrübergangs wird aufgrund des Gesetzes vermutet, was auch widerlegbar ist (§ 292 ZPO).

 

Bisher musste man in einer Prüfungsarbeit den Streitstand der Rechtsprechung und Literatur zur Reichweite dieser gesetzlichen Vermutung darstellen.  Möglicherweise wird die Ansicht des Bundesgerichtshofs in diesem Punkt in der Zukunft nur noch von rechtshistorischem Interesse sein.  Denn inzwischen hat der Gerichtshof der Europäischen Union zu eben diesem Problembereich konkret Stellung bezogen.

 

1. Auffassung des Bundesgerichtshofs


Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2004 (BGH NJW 2004, 2299, unter II 2 a) steht fest, dass das Gericht eine enge Auslegung der Vorschrift vornimmt, sodass sich die Vermutung nur auf den Zeitpunkt des konkreten Mangels bezieht.

Damit hilft dem Käufer die Beweislastumkehr nur, wenn nicht ermittelt werden kann, wann der bestimmte Mangel vorlag.  Deshalb muss der Käufer nachweisen, dass die Ursache des Mangels nicht durch eine Fehlbedienung gesetzt worden ist.

Wenn also innerhalb von sechs Monaten seit Übergabe der Kaufsache ein Mangel aufgetreten ist, der allerdings bei Gefahrübergang zweifelsfrei nicht vorgelegen hat und sich nicht klären lässt, ob für diesen später aufgetretenen Mangel ein latenter Grundmangel ursächlich war, muss der Käufer das Vorliegen des latenten Grundmangels als Mangelursache beweisen. 

 

An dieser Stelle darf man sich nicht verwirren lassen: Wenn jedoch ein Grundmangel unstreitig gegeben ist und sich nicht klären lässt, ob dieser in zeitlicher Hinsicht schon bei Gefahrübergang gegeben war, ist die Vermutung des § 476 BGB durchaus einschlägig (BGH NJW 2007, 2621, Rn. 16 f.).

 

2. Herrschende Literaturmeinung


Demgegenüber geht die weit überwiegende Ansicht in der juristischen Literatur davon aus, dass auch das Vorliegen des Grundmangels von der gesetzlichen Vermutung umfasst ist (Lorenz NJW 2004, 3020; H. Roth ZIP 2004, 2025).

Demnach hilft dem Käufer die Vorschrift bereits dann, wenn sich innerhalb von sechs Monaten irgendein Mangel zeigt.  Die Kritik an der Rechtsprechung geht dahin, dass sich für die Auslegung des Bundesgerichtshofs keine Anhaltspunkte aus dem Wortlaut oder dem Zweck des Gesetzes ergeben.

Berechtigterweise muss man sich mit dieser Meinung fragen, wie denn ein Käufer im Prozess beweisen soll, dass der Mangel nicht auf seinem Fehlverhalten beruhte.  Dagegen hat der Verkäufer deutlich bessere Beweismöglichkeiten als der Käufer.

 

3. Auslegung des EuGH


Nunmehr hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union zu der Auslegung der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 geäußert (EuGH v. 4.6.2015 - Rs C-497/13):

 

„Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 1999/44 ist dahin auszulegen, dass die Regel, wonach vermutet wird, dass die Vertragswidrigkeit bereits zum Zeitpunkt der Lieferung des Gutes bestand,

 

–  zur Anwendung gelangt, wenn der Verbraucher den Beweis erbringt, dass das verkaufte Gut nicht vertragsgemäß ist und dass die fragliche Vertragswidrigkeit binnen sechs Monaten nach der Lieferung des Gutes offenbar geworden ist, d. h., sich ihr Vorliegen tatsächlich herausgestellt hat. Der Verbraucher muss weder den Grund der Vertragswidrigkeit noch den Umstand beweisen, dass deren Ursprung dem Verkäufer zuzurechnen ist;

 

–  von der Anwendung nur dadurch ausgeschlossen werden kann, dass der Verkäufer rechtlich hinreichend nachweist, dass der Grund oder Ursprung der Vertragswidrigkeit in einem Umstand liegt, der nach der Lieferung des Gutes eingetreten ist.“

 

Diesem Richterspruch lag ein Sachverhalt zugrunde, in welchem die Käuferin ein Fahrzeug gekauft hatte, das innerhalb von sechs Monaten seit Übergabe völlig ausgebrannt war.  Die entscheidungserhebliche Frage lag hier also darin, ob der Brand des Fahrzeugs auf einen Grundmangel bei Gefahrübergang zurückzuführen war, da der Brand offensichtlich erst lange nach der Übergabe ausbrach.  Mit der eingangs angeführten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs käme man zu dem Ergebnis, dass sich aus § 476 BGB keine solche Vermutung ergibt.  Demgegenüber bejaht der Gerichtshof der Europäischen Union die Vermutung in diesem Fall (Rn. 66 ff.).

 

In der Folge wird man gespannt auf die nächste Entscheidung des Bundesgerichtshofs und ein mögliches Einlenken zu diesem Thema warten dürfen.

 

Nachtrag: Nun ist es endlich so weit. Der Bundesgerichtshof hat laut einer Pressemitteilung seine bisherige (und meiner Ansicht nach völlig verfehlte) Rechtsprechung zur Vermutungswirkung nach § 476 BGB in dem Urteil vom 12. Oktober 2016 - VIII ZR 103/15 aufgegeben. Nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH v. 4.6.2015 - Rs C-497/13) hatte das Gericht auch gar keine andere Möglichkeit. Nunmehr greift also die Vermutungswirkung bereits dann ein, wenn dem Käufer der Nachweis gelingt, dass sich innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang ein mangelhafter Zustand (eine "Mangelerscheinung") gezeigt hat.

 

Das ist eine völlig Umkehr der Rechtsprechung in diesem Punkt und wird interessanterweise in der Pressemitteilung so beschrieben, dass die „zu § 476 BGB* entwickelten Grundsätze zugunsten des Käufers angepasst“ würden. Nach meinem Verständnis wird hier nichts angepasst, sondern die haltlose Auslegung der Vorschrift in neuem Licht vorgenommen. Dann sollte man das auch als eine Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung bezeichnen.

 

Für Juristen in der Ausbildung ist in der Folge garantiert damit zu rechnen, dass sich die Auslegung der Vorschrift in der Zukunft in Prüfungsarbeiten wiederfinden wird. Was allerdings geschieht mit all den Fällen im richtigen Leben, die vor dieser Rechtsprechungsänderung entschieden und in Rechtskraft erwachsen sind? Das Vertrauen in die Gerichte wird durch ein solches Vorgehen sicher nicht gestärkt.


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