Diese Beweislastumkehr gilt für den Verbrauchsgüterkauf, also nicht generell für jeden Kaufvertrag. Sie erleichtert also die Beweislage für den Käufer als Verbraucher.
Allerdings wird
nach dieser Vorschrift nicht die Mangelhaftigkeit der Sache vermutet, sondern
das Vorliegen eines Mangels muss der Käufer beweisen. Allein das Vorliegen des Mangels zur Zeit des
Gefahrübergangs wird aufgrund des Gesetzes vermutet, was auch widerlegbar ist
(§ 292 ZPO).
Bisher musste man in einer
Prüfungsarbeit den Streitstand der Rechtsprechung und Literatur zur Reichweite
dieser gesetzlichen Vermutung darstellen.
Möglicherweise wird die Ansicht des Bundesgerichtshofs in diesem Punkt
in der Zukunft nur noch von rechtshistorischem Interesse sein. Denn inzwischen hat der Gerichtshof der
Europäischen Union zu eben diesem Problembereich konkret Stellung bezogen.
1. Auffassung des Bundesgerichtshofs
Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2004 (BGH NJW 2004, 2299, unter II 2 a) steht fest, dass das Gericht eine enge Auslegung der Vorschrift vornimmt, sodass sich die Vermutung nur auf den Zeitpunkt des konkreten Mangels bezieht.
Damit hilft dem Käufer die Beweislastumkehr nur, wenn nicht ermittelt werden kann, wann der bestimmte Mangel vorlag. Deshalb muss der Käufer nachweisen, dass die Ursache des Mangels nicht durch eine Fehlbedienung gesetzt worden ist.
Wenn also innerhalb von sechs Monaten seit
Übergabe der Kaufsache ein Mangel aufgetreten ist, der allerdings bei
Gefahrübergang zweifelsfrei nicht vorgelegen hat und sich nicht klären lässt,
ob für diesen später aufgetretenen Mangel ein latenter Grundmangel ursächlich
war, muss der Käufer das Vorliegen des latenten Grundmangels als Mangelursache
beweisen.
An dieser Stelle darf man
sich nicht verwirren lassen: Wenn jedoch ein Grundmangel unstreitig gegeben ist
und sich nicht klären lässt, ob dieser in zeitlicher Hinsicht schon bei
Gefahrübergang gegeben war, ist die Vermutung des § 476 BGB durchaus
einschlägig (BGH NJW 2007, 2621, Rn. 16 f.).
2. Herrschende Literaturmeinung
Demgegenüber geht die weit überwiegende Ansicht in der juristischen Literatur davon aus, dass auch das Vorliegen des Grundmangels von der gesetzlichen Vermutung umfasst ist (Lorenz NJW 2004, 3020; H. Roth ZIP 2004, 2025).
Demnach hilft dem Käufer die Vorschrift bereits dann, wenn sich innerhalb von sechs Monaten irgendein Mangel zeigt. Die Kritik an der Rechtsprechung geht dahin, dass sich für die Auslegung des Bundesgerichtshofs keine Anhaltspunkte aus dem Wortlaut oder dem Zweck des Gesetzes ergeben.
Berechtigterweise muss
man sich mit dieser Meinung fragen, wie denn ein Käufer im Prozess beweisen
soll, dass der Mangel nicht auf seinem Fehlverhalten beruhte. Dagegen hat der Verkäufer deutlich bessere
Beweismöglichkeiten als der Käufer.
3. Auslegung des EuGH
Nunmehr hat sich der
Gerichtshof der Europäischen Union zu der Auslegung der Richtlinie 1999/44/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 geäußert (EuGH v.
4.6.2015 - Rs C-497/13):
„Art.
5 Abs. 3 der Richtlinie 1999/44 ist dahin auszulegen, dass die Regel, wonach
vermutet wird, dass die Vertragswidrigkeit bereits zum Zeitpunkt der Lieferung
des Gutes bestand,
– zur Anwendung gelangt, wenn der Verbraucher
den Beweis erbringt, dass das verkaufte Gut nicht vertragsgemäß ist und dass
die fragliche Vertragswidrigkeit binnen sechs Monaten nach der Lieferung des
Gutes offenbar geworden ist, d. h., sich ihr Vorliegen tatsächlich
herausgestellt hat. Der Verbraucher muss weder den Grund der Vertragswidrigkeit
noch den Umstand beweisen, dass deren Ursprung dem Verkäufer zuzurechnen ist;
– von der Anwendung nur dadurch ausgeschlossen
werden kann, dass der Verkäufer rechtlich hinreichend nachweist, dass der Grund
oder Ursprung der Vertragswidrigkeit in einem Umstand liegt, der nach der
Lieferung des Gutes eingetreten ist.“
Diesem Richterspruch lag ein
Sachverhalt zugrunde, in welchem die Käuferin ein Fahrzeug gekauft hatte, das
innerhalb von sechs Monaten seit Übergabe völlig ausgebrannt war. Die entscheidungserhebliche Frage lag hier
also darin, ob der Brand des Fahrzeugs auf einen Grundmangel bei Gefahrübergang
zurückzuführen war, da der Brand offensichtlich erst lange nach der Übergabe
ausbrach. Mit der eingangs angeführten
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs käme man zu dem Ergebnis, dass sich aus §
476 BGB keine solche Vermutung ergibt.
Demgegenüber bejaht der Gerichtshof der Europäischen Union die Vermutung
in diesem Fall (Rn. 66 ff.).
In der Folge wird man
gespannt auf die nächste Entscheidung des Bundesgerichtshofs und ein mögliches
Einlenken zu diesem Thema warten dürfen.
Nachtrag: Nun ist es endlich so weit. Der
Bundesgerichtshof hat laut einer Pressemitteilung seine bisherige (und meiner
Ansicht nach völlig verfehlte) Rechtsprechung zur Vermutungswirkung nach § 476
BGB in dem Urteil vom 12. Oktober 2016 - VIII ZR 103/15 aufgegeben. Nach der
Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH v. 4.6.2015 - Rs
C-497/13) hatte das Gericht auch gar keine andere Möglichkeit. Nunmehr greift
also die Vermutungswirkung bereits dann ein, wenn dem Käufer der Nachweis
gelingt, dass sich innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang ein
mangelhafter Zustand (eine "Mangelerscheinung") gezeigt hat.
Das
ist eine völlig Umkehr der Rechtsprechung in diesem Punkt und wird
interessanterweise in der Pressemitteilung so beschrieben, dass die „zu § 476
BGB* entwickelten Grundsätze zugunsten des Käufers angepasst“ würden. Nach
meinem Verständnis wird hier nichts angepasst, sondern die haltlose Auslegung
der Vorschrift in neuem Licht vorgenommen. Dann sollte man das auch als eine
Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung bezeichnen.
Für
Juristen in der Ausbildung ist in der Folge garantiert damit zu rechnen, dass
sich die Auslegung der Vorschrift in der Zukunft in Prüfungsarbeiten
wiederfinden wird. Was allerdings geschieht mit all den Fällen im richtigen
Leben, die vor dieser Rechtsprechungsänderung entschieden und in Rechtskraft
erwachsen sind? Das Vertrauen in die Gerichte wird durch ein solches Vorgehen
sicher nicht gestärkt.
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