Das Thüringer Oberlandesgericht (Urteil vom 26. Januar 2024 – 9 U 364/18) hat in einer neuen Entscheidung klargestellt, welche Anforderungen an die Kenntnis eines Rechtsanwalts von der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH zu stellen sind und was die Folgen einer solchen Missachtung sein können.
Dies ist für viele Studierende vielleicht schon jetzt ein interessantes Thema, zumal die Mehrheit nach der Ausbildung in der Anwaltschaft arbeiten wird.
Hier der insoweit einschlägige Teil der Leitsätze des Gerichts
„Die
aktuelle einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung hat ein auf das
betroffene Rechtsgebiet spezialisierter Rechtsanwalt, der mit einer Vielzahl
ähnlich gelagerter Verfahren mandatiert ist, im besonderen Maße zeitnah zur
Kenntnis zu nehmen und bei seiner Beratung zu berücksichtigen. Er ist gehalten,
sich über die online verfügbare Entscheidungsdatenbank des Bundesgerichtshofs
über die fortlaufende Rechtsprechung zu informieren.“
Zum Sachverhalt
Die Klägerin, ein Rechtsschutzversicherer, nimmt die beklagten
Rechtsanwälte aus übergegangenem Recht ihrer Versicherungsnehmer auf Ersatz
eines Kostenschadens in Anspruch. Der Schaden soll dadurch verursacht worden
sein, dass die Beklagten für ihre Mandanten einen von vornherein aussichtslosen
Rechtsstreit geführt bzw. fortgeführt haben.
Aus den Gründen
„Zwischen den Beklagten und ihren Mandanten bestand seit
2011 ein Anwaltsvertrag (§ 675 BGB), wobei die Beklagten eine Vollmacht
für die außergerichtliche und gerichtliche Vertretung in Bezug auf Schadensersatzansprüche
wegen einer von ihren Mandanten getätigten Beteiligung an dem „S. KG“
erhielten. Die Beklagten betrieben ab dem Jahr 2013 im Auftrag ihrer Mandanten
ein Klageverfahren, das im Jahr 2015 - für die Beklagten erkennbar -
aussichtslos geworden war und zu einem Kostenschaden der Mandanten führte…
Ein Rechtsanwalt ist grundsätzlich zur allgemeinen,
umfassenden und möglichst erschöpfenden Beratung des Auftraggebers verpflichtet
(vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 – IX ZR 165/19 –, juris Rn. 27). Unkundige
muss er über die Folgen ihrer Erklärungen belehren und vor Irrtümern bewahren.
In den Grenzen des Mandats hat er dem Mandanten diejenigen Schritte anzuraten,
die zu dem erstrebten Ziel zu führen geeignet sind, und Nachteile für den
Auftraggeber zu verhindern, soweit solche voraussehbar und vermeidbar sind.
Dazu hat er dem Auftraggeber den sichersten und gefahrlosesten Weg
vorzuschlagen und ihn über mögliche Risiken aufzuklären, damit der Mandant zu
einer sachgerechten Entscheidung in der Lage ist (BGH, a.a.O. Rn. 27, juris).
Ziel der anwaltlichen Rechtsberatung ist es danach, dem Mandanten
eigenverantwortliche, sachgerechte (Grund-)Entscheidungen („Weichenstellungen”)
in seiner Rechtsangelegenheit zu ermöglichen. Dazu muss sich der Anwalt über
die Sach- und Rechtslage klarwerden und diese dem Auftraggeber verständlich
darstellen (BGH, a.a.O. Rn. 28). Auch im Blick auf die Erfolgsaussichten eines
in Aussicht genommenen Rechtsstreits geht es darum, den Mandanten in die Lage
zu versetzen, eigenverantwortlich seine Rechte und Interessen zu wahren und
eine Fehlentscheidung in seinen rechtlichen Angelegenheiten vermeiden zu
können. Aufgrund der Beratung muss der Mandant in der Lage sein, Chancen und
Risiken des Rechtsstreits selbst abzuwägen. Hierzu reicht es nicht, die mit der
Erhebung einer Klage verbundenen Risiken zu benennen. Der Rechtsanwalt muss
auch das ungefähre Ausmaß der Risiken abschätzen und dem Mandanten das Ergebnis
mitteilen (BGH, a.a.O. Rn. 29). Zwar besteht keine mandatsbezogene Pflicht, einen
von Anfang an aussichtslosen Rechtsstreit nicht zu führen, jedoch muss der
Rechtsanwalt seiner Pflicht zur Beratung des Mandanten über die
Erfolgsaussichten des in Aussicht genommenen Rechtsstreits genügen (vgl. BGH
a.a.O. Rn. 26). Ist danach eine Klage praktisch aussichtslos, muss der
Rechtsanwalt dies klar herausstellen. Er darf sich nicht mit dem Hinweis
begnügen, die Erfolgsaussichten seien offen. Vielmehr kann der Rechtsanwalt
nach den gegebenen Umständen gehalten sein, von der beabsichtigten Rechtsverfolgung
ausdrücklich abzuraten (BGH a.a.O. Rn. 29 m.w.N.).
Bei der Beratung kommt der aktuellen einschlägigen
höchstrichterlichen Rechtsprechung überragende Bedeutung zu (BGH a.a.O. Rn.
30). Diese hat ein auf das betroffene Rechtsgebiet spezialisierter
Rechtsanwalt, der mit einer Vielzahl ähnlich gelagerter Verfahren mandatiert
ist, im besonderen Maße zeitnah zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Beratung
zu berücksichtigen…
Gemessen an diesen Grundsätzen waren die Beklagten
verpflichtet gewesen, vor der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Gera
am 11.07.2016 zur Rücknahme der Klage zu raten, weil diese infolge des Urteils
des Bundesgerichtshofs vom 18.06.2015 (III ZR 198/14) praktisch aussichtslos
geworden war und die Beklagten ihre Beratung mit dem 30.09.2015 danach hätten
ausrichten müssen. Im vorliegenden Rechtsstreit kommt hinzu, dass nach dem
Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 28.01.2016 (III ZB 88/15), der am
23.02.2016 auf der Homepage des Bundesgerichtshofs veröffentlicht wurde,
weiträumig vor dem Termin vor dem Landgericht eine höchstrichterliche
Entscheidung vorlag, die einerseits den von den Beklagten formulierten
Güteantrag und andererseits eine Auseinandersetzung mit unionsrechtlichen
Fragen enthielt. Die rechtliche Einschätzung der Beklagten, dass über den
30.09.2015 bzw. den 28.01.2016 hinaus weiterhin Erfolgsaussichten bestanden
hätten, war objektiv unzutreffend, für einen sorgfältig arbeitenden
Rechtsanwalt erkennbar und damit pflichtwidrig.“
Fazit
Wie man sieht, muss man als Rechtsanwalt/in ständig mit
der neuesten Rechtsprechung des BGH vertraut sein und muss sich sogar online
über etwaige neuere Urteile erkundigen, bevor diese in den Fachzeitschriften
abgedruckt sind. Wer das nicht tut, kann sich also schadensersatzpflichtig
machen, wobei dann natürlich wieder die Haftpflichtversicherung der Kanzlei
vorrangig in Anspruch genommen wird.
Weiterführende Literatur
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Hier sind weitere Artikel zum Zivilprozessrecht zu finden
Die
Zulässigkeit der Klage im Zivilrecht
Zuständigkeitsstreitwert und Feststellungsklage
Die
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