Ein Urteil des Bundesgerichtshofs bietet Anlass für fortgeschrittene Jurastudierende, sich einmal mit dem Schadensersatz bei einem Verkehrsunfall zu beschäftigen.
Hier liegt die besondere Konstellation vor, dass es zwischen den beteiligten Fahrzeugen nicht einmal zu einer Berührung gekommen ist, was aber im konkreten Fall unschädlich für den geltend gemachten Anspruch war.
Sachverhalt
„Der
Kläger befuhr mit seinem Motorrad die B. Straße in Richtung H. Vor ihm fuhr ein
Pkw, hinter ihm ein weiteres Motorrad. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit
betrug 70 km/h. Die Beklagte zu 1 fuhr mit ihrem bei der Beklagten zu 2
haftpflichtversicherten Pkw auf der B. Straße in die Gegenrichtung. Ihre
Fahrbahn war in einer leichten Rechtskurve durch ein Müllabfuhrfahrzeug blockiert,
das gerade beladen wurde. Um an diesem Fahrzeug vorbeizufahren, wechselte die
Beklagte zu 1 auf die Gegenfahrbahn. Der ihr dort entgegenkommende Pkw bremste
stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1 zu vermeiden. Auch der hinter diesem Pkw fahrende Kläger
machte eine Vollbremsung. Sein Motorrad, das nicht über ein
Anti-Blockier-System (ABS) verfügte, geriet dabei ins Rutschen. Der Kläger
stürzte und zog sich erhebliche Verletzungen zu. Zu einer Kollision des
Motorrads mit dem vorausfahrenden Pkw kam es nicht. Der hinter dem Kläger
fahrende Motorradfahrer konnte abbremsen, ohne zu stürzen…“
Fraglich ist, ob der Kläger in dieser Situation einen
Schadensersatzanspruch hat.
Hier
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zu finden
Explodierte
Batterie und § 7 I StVG
Halterhaftung
beim Kfz (§ 7 StVG)
Haftung
nach § 7 I StVG bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs, das abgestellt ist
Urteilsgründe
„1. Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Haftungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG dem Grunde nach vorliegen. Der Schaden des Klägers ist bei dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs entstanden.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des
Senats ist ein Schaden bereits dann "bei dem Betrieb" eines
Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug
ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, das heißt, wenn bei der insoweit
gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug
(mit)geprägt worden ist. Erforderlich ist aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den
Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt,
hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos
gehalten werden soll, d.h. die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren
fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. Für die Zurechnung
der Betriebsgefahr kommt es damit maßgeblich darauf an, dass die
Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem
bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des
Kraftfahrzeugs steht (vgl. nur Senatsurteil vom 12. Dezember 2023 - VI ZR
77/23, NJW 2024, 898 Rn. 13 mwN).
Das
Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Haftung gemäß § 7
Abs. 1 StVG nicht davon abhängt, dass es zu einer Kollision der Fahrzeuge
gekommen ist (Senatsurteil vom 22. November 2016 - VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173
Rn. 12 mwN). Allerdings reicht die bloße Anwesenheit eines im Betrieb
befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Bei
einem sogenannten "Unfall ohne Berührung" ist Voraussetzung für die
Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass
über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten
seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners
beeinflusst hat, also, dass das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise (oder
sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat
(vgl. Senatsurteile vom 22. November 2016 - VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173 Rn.
14; vom 26. April 2005 - VI ZR 168/04, NJW 2005, 2081, juris Rn. 10 mwN).
Das
kann etwa der Fall sein, wenn der Geschädigte durch den Betrieb eines
Kraftfahrzeugs zu einer Reaktion wie z.B. zu einem Ausweichmanöver oder zum
Abbremsen veranlasst wird und dadurch ein Schaden eintritt. In einem solchen
Fall kann der für eine Haftung erforderliche Zurechnungszusammenhang je nach
Lage des Falles zu bejahen sein (vgl. Senatsurteil vom 21. September 2010 - VI
ZR 263/09, NJW 2010, 3713 Rn. 5). Auch ein Unfall infolge einer voreiligen -
also objektiv nicht erforderlichen - Abwehr- oder Ausweichreaktion kann
gegebenenfalls dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zugerechnet werden, das diese
Reaktion ausgelöst hat (vgl. Senatsurteil vom 21. September 2010 - VI ZR
263/09, NJW 2010, 3713 Rn. 6 mwN).
b)
Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler angenommen,
dass bei dem berührungslosen Unfall des Klägers der erforderliche
Zurechnungszusammenhang zu dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs besteht…“
Hier sind weitere Artikel
zum Schadensrecht zu finden
Mitverschulden
bei der Haftungsausfüllung, § 254 II 1 BGB
Dieselskandal
und Schadensrecht
Schadensminderungspflicht
und Kaskoversicherung
Schadensersatz
bei Verletzung des Anwartschaftsrechts
Ehrverletzenden
Äußerungen und zivilrechtliche Folgen
Schadensersatz
wegen Verbrühung mit heißem Tee?
Fazit
Wie man sehen kann, ist es durchaus möglich, einen
Schadensersatz gem. § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr.
1 VVG bei einem Verkehrsunfall zu gewähren, wenn es zwischen den beteiligten
Fahrzeugen nicht einmal zu einer Berührung kommt. Das ist ein wichtiger
Gesichtspunkt für die juristische Ausbildung. Wer hier den Anspruch ablehnt,
wird keine größere Punktzahl im Examen erreichen können.
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